EINZELSCHICKSAL
- Unter jeder Uniform steckt nur ein Mensch -
Der VBGO e.V. ist mit der Bergung von Kriegsopfern beschäftigt, deren Schicksale größtenteils bis heute ungeklärt sind. Hierbei machen wir keinen Unterschied in der Nation.
Jeder Mensch hat das Anrecht auf eine würdige Beisetzung. Seinem Opfer soll gedacht werden.
Im Tode sind alle gleich.
Anbei sehen Sie einige wenige Beispiele der tausenden Schicksale, die wir seit 1992 klären konnten.
Jeder Tote hat eine Lebensgeschichte die erzählt werden könnte.
Exemplarisch haben wir hier einige kurz vorgestellt
Gerhard FROESE
Nationalität: Deutscher
Erkennungsmarke: -57- 2.M./STu.G.E.u.A.Abt.300
Ausgrabungsort: Polen, Ostseeküste bei Reval
Ausgrabung anzeigen
Bild: Der Bruder Heinz des Gefallenen Gerhardt Fröse
Bild: die ganze Familie Froese am Grab des vermissten Bruders
Bild: Besuch des Ortes an welchem wir Gerhard Froese fanden
Obergefreiter Gerhard Froese 1945
Gerhard Froese
Deutscher Soldat
geb. am 11.August 1920
Berichten möchte ich, sein Bruder Heinz, über ihn.
Da in unserer Verwandtschaft mehrere dasselbe Los erlitten, soll es stellvertretend für mehrere geschehen.
Zwischen den drei Familien in unserer Verwandtschaft, bestehen diverse Gemeinsamkeiten.
Alle wurden innerhalb von 9 Jahren geboren. Alle stammen aus Ostpreußen und mit zwei Ausnahmen aus bäuerlicher Herkunft. Alle wurden während des Krieges im Osten eingesetzt (ich allerdings nur sehr kurz). Außer mir sind alle im Osten während des Krieges vermisst. Niemand wurde, meines Wissens, als gefallen gemeldet. Kinder hat von den Vermissten niemand hinterlassen, auch Angehörige gibt es von ihnen nicht. Damit die Namen nicht alle in der Versenkung verschwinden, möchte ich sie hier nennen:
Artur, Bruno und Heinz Froese, Günter und Werner Franzen (alles Vettern von mir), mein Bruder und ich.
Aber zurück zu Gerhard Froese, dem Einzigen, über den ich überhaupt Näheres berichten kann. Er hatte außergewöhnliche mir völlig unverständliche Interessen. So stand in der Abschlusszeitung der Landwirtschaftschule, die er in Pr. Holland besuchte: Wusste der Scheich (Chemie und Physiklehrer) nicht hin und her, wusste der Gerhard immer mehr. Die Elektrizität hatte es ihm auch angetan. Er bastelte sich einen Elektrisierapparat. Ich musste als Partner und Versuchskaninchen herhalten. Elektrisieren sollte ja so gesund sein. Da die Batterien zu teuer waren, machte er sich einen Transformator dafür. Dauernd wurde ich mit steigender Spannung unter Strom gesetzt. Einmal hatte er vergessen, den Transformator umzustellen und ich bekam die vollen 230 Volt. Das hätte mich beinahe das Leben gekostet. Zur Nachrichtenübermittlung bastelte er einen Morseapparat. Mit 9 Jahren musste ich das Morsealphabet beherrschen. So sendeten wir uns die schusseligsten Nahrichten vom Dachboden ins Kinderzimmer. Immer wenn ich mich vertippt oder falsch gelesen hatte, bekam ich einen Rüffel. Überall in unserem Zimmer lagen Drähte herum. Ich schlief in einem Metallbett. Als ich morgens einmal aufstand und mich auf die Bettkante setzte, bekam ich einen Stromschlag, dass mir Hören und Sehen verging. Er hatte wochenlang gebraucht, bis der üble Scherz klappte. Immer ging etwas schief. Mal flog die Sicherung raus, die er dann mit Stanniol flicken musste, mal waren die Pantoffel, mal das Nachthemd im Wege, bis es endlich funkte. Einmal wurde er aber selbst zum Opfer seiner Neugier. Er hatte einen Pilz gefunden. Braun-grünlich, ein herrliches, riesiges Exemplar. Die Frage war nur: giftig oder nicht? Das musste er testen. Er aß zwei kleine Würfel. Danach bekam er Schüttelfrost und Schweißausbrüche. Also nicht essbar. Den Eltern konnten wir seinen Zustand als Erkältung verkaufen. Schon mit 14 Jahren hatte er sich einen Fotoapparat zusammengespart. Eine Kleinbildkamera, eine Zeiss Ikon. Auch in Russland fotografierte er viel. Die Filme wurden daheim entwickelt. Nur einige Bilder haben die Flucht überstanden und sind jetzt in meinem Besitz.
Der Winter ist auf dem Bauernhof eine arbeitsarme Zeit. Mit Fernsehen konnte man auch noch keine Zeit vergeuden. Da fing Gerhard an, eine Dorfchronik zu schreiben. Er nervte die Pfarr –und Gemeindeämter. Viele unbekannte und interessante Sachen hat er da zusammengetragen. Leider ist die Chronik dort geblieben, wo sie eigentlich hingehört, nach Hirschfeld in Ostpreußen. Wie damals so üblich, bekam er mit 19 Jahren den Gestellungsbefehl. Nach der Ausbildung, der Kampf um den Endsieg hatte sich schon bis Russland ausgeweitet. Dort wurde er auch, erstmals als Kradmelder, eingesetzt. Er fuhr nachts mit dem Krad in einen Granattrichter und brach sich den Arm. Ein Glücksfall. Der grausame Winter kam und er lag im Lazarett, im Kloster in Braunsberg; Der Wunschtraum eines jeden Frontsoldaten. Ein Heimatschuss. Eine Verwundung, ohne Spätfolgen, deren Heilung möglichst lange dauert, mit anschließendem Genesungsurlaub. Man stelle sich den Unterschied vor. Hier im weißbezogenen Bett. Schlafen jede Nacht, so lange man wollte. Regelmäßiges Essen. Ein warmes Zimmer und keine Läuse. Im Gegenteil dazu die Front bei 50 Grad unter Null. Den Winterkampforden „Gefrierfleischorden" bekam er allerdings nicht. Auf den konnte er auch verzichten. In Braunsberg besuchte ich ihn. Dort lagen vor allem Patienten mit Erfrierungen. Ich kann mich nur an den Gestank von den erfrorenen Gliedmaßen erinnern. Zweimal habe ich ihn dann noch gesehen. 1943 kam er auf Genesungsurlaub. Er war sehr schweigsam. Auf meine Fragen gab er nur ausweichende Antworten. Mit dem ukrainischen Fremdarbeiter, Gregor Lebidiow, den man uns zugeteilt hatte, sprach er oft. Immer auf ukrainisch. Als ich selbst Soldat war, besuchte er mich in der Ausbildungsabteilung in Insterburg. Eine Neue Waffe wurde aufgestellt, das Sturmgeschütz, (Panzer ohne Turm). Dort landete er als Funker (ohne Funkausbildung). An einzelne Nachrichten in seinen Briefen erinnere ich mich noch. Wie „Schwerste Kämpfe um Sewastopol", „Lange verlustreiche Kämpfe am Kuban", „Wurden abgeschossen und als Infanterie eingesetzt" und die letzte Nachricht im Dezember 1944: „Bin in der Fahnenjunkerschule Großborn-Linde, Pommern, gelandet". Von da an existieren noch zwei Briefe vom Januar 1945, die meine Eltern von ihm erhielten. Da waren Sätze drin, die klangen wie Abschied und Angst vor der Zukunft. Wie „Du bist die beste Mama der Welt": und „Wenn es schlimmer kommen sollte".
Trotz aller Nachforschungen meiner Eltern blieb er vermisst.
Die Jahrzehnte vergingen. Eines stand fest: Er lebte nicht mehr. Aber wie und wo er gestorben ist und wo er begraben war, blieb unklar.
Plötzlich, nach fast 70 Jahren, kam die Nachricht, dass man seine Gebeine gefunden hat. Aber der Reihe nach. Bei Pustowo, Gemeinde Rewal Kreis Gryfice (Greifenberg, Pommern) wurde eine Straße gebaut. Dabei fand man im Januar 2011 die Gebeine eines deutschen Soldaten. Wo einer gefunden wurde, wurden auch mehrere vermutet. Nun trat der VBGO und die polnische Partnerorganisation „Pomorze" in Aktion. Alles freiwillige Helfer, die Freizeit und Kosten opfern, um Kriegstote zu bergen. Mehrere deutsche Soldaten wurden gefunden. Nicht alle konnten identifiziert werden. Mein Bruder wurde mit dem Detektor überhaupt nur gefunden, weil er viele metallische Gegenstände bei sich hatte. Die Erkennungsmarke und einige oxidierte Metallklumpen hatte er bei sich. Alles konnte erst im „Institut für gerichtliche Medizin" in Stettin lesbar gemacht werden. Wieder durch ehrenamtliche Arbeit, vor allem unter Leitung von Dr. Andrzej Ossowski. Die Gebeine aller wurden durch den Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge auf dem Soldatenfriedhof Neumark / Stare Czarnowo beigesetzt. Nun begann der Weg durch die Institutionen wie das Rotes Kreuz, die Deutsche Dienststelle und den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Endlich, im September 2012, hatte man mich, einen Angehörigen ermittelt und benachrichtigt. Plötzlich wurde die Vergangenheit für mich wieder präsent. Albrecht Laue vom VBGO hat noch einen Zeitzeugen ermittelt, der mit der Einheit meines Bruders im selben Abschnitt lag und dort verwundet wurde. Der hat einen ausführlichen Bericht und eine Skizze erstellt. Nun konnten wir uns ein Bild der damaligen Ereignisse machen. Dadurch wissen wir den genauen Todeszeitpunkt meines Bruders
Der Entschluss, auch bei meiner Frau, den Kindern und Enkeln, den Fundort und das Grab zu besuchen, war schnell gefasst. Nach Vorbereitung von Albrecht Laue fuhren wir Ostern 2013 nach Stettin. Dort nahmen uns Piotr Brzezinski vom „Pomorze" (Kapitän von Beruf) und Dr. Ossowski in Stettin in Empfang und begleiteten uns einen ganzen Tag lang zu der Fundstelle und dem Friedhof. Sehr beeindruckt hat uns das Wissen von Piotr Brzezimski über die damaligen Ereignisse. Unglaublich seine Ermittlungen. Er kannte den ganzen Verlauf der Kämpfe, wusste genau wo noch weitere Russen und Deutsche liegen müssen. Diese zu finden ist natürlich sehr aufwändig. Um graben zu können braucht man viele Genehmigung. Natürlich auch die der Grundstückseigentümer. Bis zur Erlangung aller Genehmigung kann über ein ganzes Jahr vergehen.
Die Arbeit der Helfer wird natürlich nicht weniger, im Gegenteil.
Wir jedenfalls konnten von meinem Bruder an seinem Grab Abschied nehmen. Hier möchten wir allen Helfern, die das ermöglicht haben, von Herzen danken.
Heinz Froese im März 2013